12.12.2007

Pause, kein Ende

Meine Lektüre-Notizen werde ich demnächst fortsetzen.

Für die Zwischenzeit ein Hinweis auf einen kurzen Artikel von Alexandra Kemmerer in der FAZ (12.12. 2007, S. 38) über "Immanent Frame", das offizielle Weblog zu "A Secular Age"

24.11.2007

Einleitung - Abschnitt 4 (p. 20-22)

Der neue Kontext, den secularity darstellt, hat das Hauptkennzeichen, daß ein naive Anerkenntnis des Transzendenten oder von Zielen und Ansprüchen, die über die Entfaltung des Menschen hinausgehen, nicht mehr möglich ist. "Naivität ist für keinen mehr verfügbar, weder für den Gläubigen noch für den Ungläubigen." (S. 21)

Dies gilt trotz der verschiedenen Milieus, deren Standardoptionen sich von denen anderer unterscheiden.

Die wesentliche Veränderung, die uns in diese neue Situation brachte, ist die Ankunft eines exklusiven Humanismus. Dafür gibt es eine Standarderklärung: Es sei die Moderne, die die drei Arten der Säkularität hervorgebracht habe. CT findet sie nicht überzeugend, und deshalb erzählt er eine eigene Geschichte.

Seine Reichweite: der Westen, die nordatlantische Welt, eine Zivilisation, deren Wurzeln in der "Lateinischen Christenheit" (latin christendom) liegen.

Im folgenden, so sagt er, wird er immer wieder gegen sogenannte "subtraction stories" Einspruch erheben. (Fortsetzung folgt)

14.11.2007

"Die Christenheit stirbt, aber nicht das Christentum"

In der Presse vom 12. 11. ein Interview mit Charles Taylor und eine kurze Notiz zu "A Secular Age".

Einleitung - Abschnitt 3 (p. 14 - 20)

Nachdem CT versucht hat zu klären, in welchem Sinne er die Worte säkular und Säkularität gebraucht, klärt er nun, was er unter religion versteht: Nicht alles, was in allen verschiedenen menschlichen Gesellschaften zu allen Zeiten als Religion verstanden wurde, sondern er beschränkt sich auf eine bestimmte Zivilisation, die lateinische Christenheit, aus der der moderne Westen hervorgegangen ist. Die Unterscheidung transzendent - immanent ist hier zentral. Immanent im Sinne einer immanenten Ordnung der Natur, die sich systematisch für sich verstehen lässt (ohne daß damit ein Schöpfer oder eine tiefere Bedeutung dieser Ordnung ausgeschlossen wäre).

Für das Christentum ist es für ein geglücktes, erfülltes, blühendes (flourishing) menschliches Leben entscheidend, daß Gott geliebt und verehrt wird.

Für den Buddhismus besteht ein geglücktes Leben darin, daß alle Formen von recognizable human flourishing zurückgewiesen oder überschritten werden. Darin liegt eine gewisse Ähnlichkeit zum Christentum.

Könnten wir dann das wahre Blühen des Menschen so definieren, daß Entsagung, Verzicht eine zentrale Rolle spielt? Fürs Christentum nicht, meint CT: Denn der Punkt beim Christentum ist, daß das, worauf verzichtet wird, was z.B. Jesus in seinem Tod aufgibt, einen Wert hat. Gott will, daß der Mensch gedeiht. Der Verzicht - christlich gesehen - bedeutet nicht, daß human flourishing wertlos wäre, sondern daß alles auf Gott ausgerichtet wird - und dieser Verzicht die Quelle menschlichen Gedeihen wird - und ein Mitwirken mit der Wiederherstellung eines fuller flourishing by God. Damit liegt im Christentum auch eine fundamentale Spannung: Menschliche Entfaltung, menschliches Gelingen ist gut, aber wir suchen es nicht als unser letztes Ziel.

Für die Frage nach der säkularen Gesellschaft heißt das:

I would like to claim that the coming of modern secularity in my sense has been coterminous with the rise of a society in which for the first time in history a purely self-sufficient humansims came to be a widely available option. I mean by this a humanismus accepting no final goals beyond human flourishing, nor any allegiance to anything else beyond this flourishing. Of no previous society was this true. (18)

Und CT stellt noch weitere Thesen auf, denen er nachgehen wird:
  • secularity 3 ging einher mit der Möglichkeit eines exklusiven Humanismus, der zum erstenmal das Angebot möglicher Optionen erweiterte und das Zeitalter eines "naiven" religiösen Glaubens beendete.
  • Dieser exklusive Humanismus entstand aus einer Zwischenform, einem Deismus, der an die Vorsehung glaubte (providential deism).
  • Beide wurden möglich durch vorausgehende Entwicklungen innerhalb des rechtgläubigen (orthodox) Christentums.

Zum Schluß des Abschnitts noch eine Klärung des beyond, des Dahinter/Jenseits der Religion, wie sie hier verstanden wird:

  • Religion bezieht es auf ein größeres Gut jenseits unseres menschlichen Gelingens. Im Fall des Christentums: auf die Liebe, die agape, die Gott zu uns hat und an der wir Teil bekommen durch ihn.
  • Dieses größere Gut ist of course nur sinnvoll, wenn es im Kontext eines Glaubens an Gott verstanden wird.
  • Die christliche story unserer Verwandlung durch Liebe macht es nötig, unser Leben als ein Leben über den Tod hinaus zu sehen.

10.11.2007

Einleitung - Abschnitt 2 (p. 4 - 14)

CT stellt klar, daß er sich in ASA nicht mit Glaubensinhalten befasst (wenigstens nicht primär) und auch nicht mit ihrer Widerlegung durch die Wissenschaft, die Vernunft oder bestimmte Wissenschaften, wie sie oft für die Säkularität 2 als ursächlich gesehen wird.

[Diese Erklärung der Säkularität 2 greift CT zu kurz: Denn z. B. der Schluß von einer darwinistischen Widerlegung der Bibel zur Zurückweisung der christlichen Religion scheint ihm nicht zwingend gewesen zu sein; es muß noch andere Gründe gegeben haben, daß Menschen im Ende des 19. Jahrhunderts ihren Glauben verloren.]

Der Fokus soll auf den unterschiedlichen Arten von gelebter Erfahrung liegen, wie sie in die Deutung des eigenen Lebens eingehen, darauf, was es heißt, als Glaubender oder Ungläubiger zu leben. CT wählt nun eine allgemeine Begrifflichkeit, um die Gestalt eines religiösen/moralischen Lebens zu beschreiben: Er spricht von Erfahrungen der Fülle (fullness), die uns in großen oder kleinen, bemerkenswerten oder alltäglichen Momenten begegnen und die uns helfen, unserem Leben eine Richtung zu geben - oder auch den Verlust der Richtung zu erfahren, die Entfernung von dem Ort der Fülle, das Exil, die Abwesenheit, den Verlust dieser Fülle. Und dann gibt es auch eine stabile Mittellage (stabilized middle condition), von der aus wir Bedeutsames tun, das gewöhnliche Glück erleben, zu dem beitragen, was wir als gut sehen.

In einem analogen Sinn kann auch das Leben eines Ungläubigen mit Hilfe dieser Begriffe beschrieben werden, auch wenn die Fülle für ihn vielleicht nicht woanders ist als die Mittellage, sondern in dieser gefunden und gesucht werden will - oder dort vermisst wird.

Für den Gläubigen jedenfalls lässt sich die Fülle nicht ohne Referenz auf Gott beschreiben, auf etwas oder jemand, der hinter dem menschlichen Leben, hinter der Natur steht. Diese Fülle wird dabei oft oder typischerweise als etwas gesehen, was empfangen wird, das auf den Menschen zukommt und das ihn öffnet, verwandelt, aus seinem Selbst herausholt. Auf das er aber auch aufmerkt, dem er sich in Gebet und Nächstenliebe öffnet.

Moderne Ungläubige stehen vor einer anderen Aufgabe, denn "the power to reach fullness is within". CT geht auf die Kantsche und andere naturalistische Varianten ein, die auf die Kraft der Vernunft für ein moralisches Leben vertrauen, und spricht auch von jenen Arten des Unglaubens, die die Kraft zum richtigen Leben, zum Erreichen der Fülle nicht von der Vernunft erwarten, sondern von woanders: aus der Natur, aus der Verbindung mit den inneren Tiefen.

Und dann gibt es eine dritte Art von Unglauben (unbelief), wie in manchen Spielarten des Postmodernismus, der den Trost des Glaubens wie des Unglaubens bestreitet und stattdessen die Tiefe der Trennung, des Verlusts der Mitte betont. Er scheint außerhalb der Definition der Fülle zu stehen und doch zieht er seine Kraft auch aus unserem Vermögen, mutig standzuhalten, das Unabänderliche auszuhalten.

In der Situation der Moderne leben wir unsere religiös-moralische Erfahrung so, daß wir anderen über die Schulter schauen: wir wissen, daß es neben uns andere Arten gibt, Kraft, Fülle, Verbannung zu erleben. In der Moderne ist die Möglichkeit verloren gegangen, ein bestimmtes Konstrukt eines moralischen/spirituellen Lebens naiv, als unmittelbare Realität zu erleben.

"Wir alle lernen, zwischen zwei Standpunkten zu navigieren: einem 'engagierten', in dem wir so gut wie möglich jene Realität leben, für die uns unser Standpunkt öffnet, und einem 'disengagierten', in dem wir fähig sind, uns selbst zu sehen, wie wir einen Standpunkt unter vielen mögichen einnehmen, mit denen wir auf verschiedene Art und Weise koexistieren müssen." (12)

Aber noch mehr: Von einer Situation, in der religiöser Glaube die Standordoption war (nicht nur für die "Naiven) sind wir in einer Situation angekommen, in der Versionen des Unglaubens für mehr und mehr Leute die einzig plausiblen sind, mindestens auf den ersten Blick

Das gilt nicht in allen Milieus und Gesellschaftssegmenten, die sehr verschieden von einander sein können. Vor die Vorentscheidung für den Unglauben herrscht in immer mehr Milieus vor, und hat in wichtigen eine Hegemonie erlangt

In anderen Worten: Der Glaube an Gott ist nicht dasselbe im Jahr 1500 und im Jahr 2000. Es geht nicht zuerst um interne Verschiebungen im Glaubensgefüge der christlichen Orthodoxie, sondern um solche im whole background framework in which one believes or refuses to believe in God. Diese Veränderungen im Hintergrund sind das, was CT Säkularity in my third sense nennt.

Wir müssen - so CT - nicht nur die Unterschiede der Glaubensbekenntnisse zwischen der religiösen und der ungläubigen Option verstehen, sondern auch diejenigen in der Erfahrung und Sensibilität.

09.11.2007

Einleitung - Abschnitt 1 (p. 1 - 4)

"What does it mean to say that we live in a secular age?" So beginnt das Buch. Darauf verspricht uns CT eine Antwort.

Wir stimmen überein, so CT: unsere Zeit ist eine "säkulare" (Ich werde diese Übersetzung benutzen, auch wenn sie in meinen Ohren nicht ganz das trifft, was im englischen "secular" mitschwingt, nämlich den Klang des Laizistischen, Weltlichen, Nicht-profanen. "Säkularisiert" betont mir dagegen zu stark das Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses.)

Aber wir sind uns weniger einig, was diese Säkularität meint, worin sie besteht.

Da gibt es einmal ein Verständnis, das sich auf Institutionen und ihr Verhältnis zueinander bezieht und einen religionsfreien öffentlichen Bereich abhebt: Säkular in diesem Sinn ist eine Gesellschaft oder ein Zeit, wenn z.B. Kirche und Staat voneinander getrennt und Religion oder ihr Fehlen eine Privatangelegenheit geworden sind. Das war bekanntlich nicht immer so, weder in den vormodernen Gesellschaften Europas, in denen die Pfarre (parish) zugleich eine kirchliche wie politische Verwaltungseinheit war, in der die Gilden nicht nur Zünfte, sondern Gebetsgemeinschaften waren und sich die ganze lokale Gesellschaftskosmos in der Fronleichnamsprozession wiederfand...

Säkularität in diesem Sinne schließt nicht, daß in einer solchermaßen säkularen Gesellschaft die Mehrheit der Bürger an Gott glaubt. Vgl. Polen, vgl. USA.

Zum zweiten wird Säkularität als Abkehr der ehemals Gläubigen von ihrer Religion verstanden, als Verschwinden gelebter (kirchlicher) Religiosität. In diesem Sinn sind für CT die Länder Westeuropas säkular.

CT befasst sich mit Säkularität aber in einem dritten Sinne (daher der Blogtitel secularity 3), der mit den beiden anderen zwar nicht unverbunden, doch nicht identisch ist: Säkularität als Zustand einer Gesellschaft, in der Glauben optional geworden ist und in der bestimmte Bedingungen für religiösen Glauben herrschen.

Genau die Genealogie, die Ursprünge und das Werden solcher säkularer Gesellschaften will CT erforschen:

"the change I want to define and trace is one which takes us from a society in which it was virtually impossible not to believe in God, to one in which faith, even for the staunchest believer, is one human possibility among others. ... Belief in God is no longer axiomatic. There are alternatives." (3)

CT macht sich auf, den Kontext zu verstehen, in dem sich religiöse, spirituelle, moralische Erfahrung unter diesen Umständen ereignet. Es geht ihm um die Situation einer "Pluralität der Optionen" und um den impliziten Hintergrund, um ihre pre-ontology. (CT greift hier einen Begriff Heideggers auf.)

Vorwort (p. IX - X)

ASA ging aus den Gifford Lectures hervor, die CT 1999 in Edinburgh hielt. Sie standen unter dem Titel "Living in a Secular Age".

Damit steht ASA in einer Reihe mit anderen Klassikern, mit "Die Vielfalt religiöser Erfahrung" (Varieties of Religious Experience) von William James etwa, mit "Prozess und Realität" (Process and Reality) von Alfred North Whitehead oder Gilsons "Geist der mittelalterlichen Philosphie" (L'esprit de la philosophie mèdiévale).

Gegenüber den Vorlesungen hat CT ASA in Thematik und Umfang erweitert, wobei für ihn der Umfang mit der Thematik nicht Schritt hielt: "The larger scope would have demanded a much bigger book than I am now offering to the reader." Ein bißchen Selbstironie wird da angesichts der 800+ Seiten mitklingen.

CT gibt eine erste Ankündigung, was er mit dem Buch will: eine Geschichte (story) erzählen, eine story dessen, was man üblicherweise die "Säkularisierung" (secularization)der modernen westlichen Welt. Dabei handele es sich nicht um eine durchgängige Geschichte+Argument, sondern um eine Reihe von miteinander verschränkten Essays.

08.11.2007

Widmung

"To my daughter Gretta"

Schlicht und einfach.

Gretta ist die jüngste (* 1965) der fünf Töchter von CT. (Quelle)

Bibliographisches und Abkürzungen

Ich benutze für die Lektüre die im September 2007 erschienene Ausgabe:

Charles Taylor: A Secular Age.- Cambridge: Belknap Press of Harvard University Press, 2007, 874 S.- ISBN 978-0-674-02676-6

Abkürzungen:

ASA - A Secular Age
CT - Charles Taylor

Zitate:

Seitenzahlen ohne weitere Angabe beziehen sich auf die oben genannte Ausgabe von ASA. Wörtliche Zitate aus ASA werde ich kursiv darstellen.

07.11.2007

Zu diesem Blog

"A Secular Age", das neue Buch von Charles Taylor, ist monumental - so viel kann ich nach der Lektüre von 131 Seiten sagen. Robert Bellah nennt es gar "one of the most important books to be written in my lifetime".

Da ich kein Gelehrter bin, sondern lediglich ein Dilettant mit ein bißchen Zeit zum Lesen hie und da, dachte ich mir: Vielleicht wären ein paar Notizen nicht schlecht, um die Übersicht in den 758 Seiten nicht zu verlieren.

So soll dieser Blog zuerst einmal mir selber helfen. Und wenn darüber hinaus auch sonst jemand Nutzen daraus zieht, soll's mir recht sein. Bitte dann aber nicht zu viel erwarten, vor allem keine Wissenschaftlichkeit.